Oct 162011
[caption id="attachment_1164" align="alignleft" width="213" caption="Herbstimmung 1"][/caption]
Diesmal wurde der Schalter Richtung Herbst umgelegt. Nach dem grünen Tiflis wechseln die Bäume ihre Farbe zu gelb und rot. Die Straßen sind bereits überseht mit Laub und ich fahre durch einen bunten, wirbelnden Blätterregen. Nur die immer noch sehr warmen 26 Grad (Nachts allerdings sehr frisch) verhindern, dass ich mich gänzlich nach Herbstdeutschland versetzt fühle.
Armenien hat es nicht gerade leicht im Umfeld seiner Nachbarn. Die Grenzen zur Türkei sind geschlossen (Genozitkonflikt) und die Grenzen zu Aserbaidschan im Osten und im Westen sind ebenfalls geschlossen (Bergkarabachkonflikt). Mit Russland haben sie zwar gute Beziehungen, aber keine Grenze - schlecht. Dazwischen liegt Georgien, was wiederum schlechte Beziehungen mit Russland (Kaukasuskrieg) und eine halb geschlossene Grenze (bestehend aus einem! Grenzübergang mitten im Kaukasus) hat - noch schlechter. Zugang zu offenem Gewässer haben sie ebenfalls nicht - prinzipiell immer ganz schlecht. Bleibt noch die islamische Republik Iran im Süden, die sich ihrerseits vielen Sanktionen durch den Westen ausgesetzt sieht. Keine einfache Position, um sich frei zu entwickeln, zumal es bei keinem der Konflikte in der Region nach einer Lösung in naher Zukunft aussieht. "Its complicated" sagt Irakli, mein sympathischer Gastgeber in Tiflis. Kompliziert und festgefahren, kein Wunder, wenn es schleppender vorangeht, als möglich.
[caption id="attachment_1169" align="alignleft" width="213" caption="Sowjet Kino"][/caption]
Ich lege eine langsame Gangart ein und unterbreche die Fahrt nach Jerewan, der Hauptstadt des Landes (von der ich selbst nie gehört hatte), für einen Zwischenstop in Dijilan. Eine der schönsten Gegenden des Landes soll es sein, Pensionen und B&Bs soll es geben und sowjetische Künstler und Denker hat es seit eh und je in die mit Laubwald bewachsenen Berge gezogen, liest man. Soweit stimmt das auch alles, aber die Realität weicht von der geweckten Assoziaten dennoch weit ab. Der Ort wird durch Sowjetarchitektur geprägt, die ihre Blütezeit seit langem überschritten hat. Das Kino ist verlassen und hinter der Eingangstür stapeln sich Zementsäcke. Die Fenster des Einkaufzentrums im Zentrum splittern und werden durch improvisierte Holzklammern zusammengehalten. Vom einstigen Warenhaus der Stadt ist nur noch ein einfacher Supermarkt im Keller geöffnet, der Rest steht leer. Kioske sind geschlossen, die Fenster verstaubt. Eine wuchtige Zementbushaltestelle verfällt. Ein verrostetes Stahlrohr sprießt hervor, der Rest wird von Moos bewohnt. Ein einzelner Mann wartet darin. Es ist still. Hier und da trotten ein paar Menschen die Bürgersteige entlang. Laub fliegt durch die Straßen.
Man kann sie förmlich noch sehen, die leuchtenden Kinderaugen mit dem Softeis in der Hand, die auf ausgestellte Spielwaren in den Schaufenstern starren. Geschäftiges Treiben, ein Kommen und Gehen im Zentrum, Menschen die am Brunnenrand sitzen und sich in der Sonne ausruhen. Heute sitzt keiner am Brunnen. Er sprüht noch Wasser, scheint aber auch nicht so richtig zu wissen warum eigentlich. Wie auf einem verlassenem Rummel fühlt es sich an. Ein wenig melancholisch, man spürt die Zeit und die Veränderung. Es macht ruhig, aber es ist auch schön, irgendwie friedlich.
Mit Erkältung und in strömenden Regen kämpfe ich mich nach Jerewan. Groß sind meine Erwartungen nicht an eine Stadt, die in erster Linie eine Planstadt aus Sowjetzeiten ist und praktisch keine historischen Viertel oder Gebäude aus seiner langen Geschichte übrig hat. Ich komme in einem familienbetriebenen Hostel (Glide Hostel) unter und fühle mich nach kurzer Zeit bereits wie der Sohn der Familie. Die Betten sind bemerkenswert schlecht (man spürt praktisch jede Feder und den darunterliegenden Rost), aber ich fühle mich wohl und stelle einmal mehr fest, wie unwichtig die "harten" Faktoren sind, solange man herzlich aufgenommen wird . Der Name Glide-Hostel ist entstanden, weil der Sohn der Familie ein Paraglider ist und entsprechend Flüge im bergreichen Armenien anbietet. Nach einem Abend über Paragliding-Videos und mit meinen Erinnerungen an eigene Sprünge, bin ich einmal mehr zur der Überzeugung gelangt, dass ich das bei Gelegenheit auch probieren sollte!
[caption id="attachment_1174" align="alignleft" width="213" caption="Streetart Jerewan"][/caption]
Überladen mit guten Tipps für Jerewan und Umgebung, mache ich mich auf, die Stadt zu erkunden. Sie ist großzügig angelegt und grün, geschäftig aber entspannt, überseht mit Cafés, Ausstellungen und allerlei Ständen und Fußgängerzonen. Man begegnet Streetart und Straßenmusikern, sieht Liebespaare in den Parks und singende Mädchengruppen, die durch die Straßen ziehen. Die Frauen fallen mir besonders ins Auge. Sie sind nicht außergewöhnlich schön, aber geben sich diesbezüglich außergewöhnlich große Mühe und häufig mit aufmerksamkeitserregenden Erfolg. In Anbetracht der Nähe des verhüllenden Iran, genieße ich daher die schöne Aussicht und erlaufe die Stadt so weit es Füße und Gesundheitszustand zulassen. Kiew und Tiflis haben eine und Jerewan hat auch eine bekommen, eine riesige, schwerttragende Eisenfrau, die über der Stadt thront. Mutter Ukraine, Georgien und Armenien heißen sie, sehen aber eher kämpferisch als mütterlich aus, aber wer will schon eine übergroße metallene Hausfrau mit Besen über der Stadt sehen. Das wäre aber doch zumindest mal ein pazifistisches Signal, vielleicht sollten wir eine auf den Müggelbergen haben, oder besser ein Mann mit Staubsauger!? Die beeindruckendste Schwertfrau aus den Hipzeiten der Kampfweiber dürfte aber wohl die in Wolgograd sein, aber das ist eine andere Reise.
[caption id="attachment_1178" align="alignleft" width="320" caption="Ararat"][/caption]
Thronen tut vor allem einer über der Stadt, der gewaltige Ararat, der höchste Berg der Türkei. Ich hatte schon bedauert, ihn bei der Türkeidurchfahrt nicht in meine Route pressen zu können, mir war aber nicht bewusst, wie gewaltig sich dieser Berg in riesigem Umkreis in Szene setzt und auch von Jerewan gut zu sehen ist. Ein Whisky, Bier, eine Bank, Hotels, Cafes, Yoghurt und vieles mehr tragen seinen Namen hier.
Verkehrstechnisch geht es nach all den Suizidfanatikern Georgiens in Armenien wieder etwas ruhiger zu, wären da nicht die Marschrutkas. Marschrutkas sind 10-Sitzer Transporter, von denen es unzählbar viele gibt und die nach Bedarf halten und Leute aufnehmen bzw. absetzen. Was grundsätzlich der günstigen und flexiblen Beförderung der Bevölkerung zu gute kommt, schadet der entspannten Stadtfahrt. Die rechte, der meist vorhandenen zwei Spuren ist eigentlich ausschließlich den ständig und plötzlich haltenden und startenden Marschrutkas vorbehalten. Da andere Marschrutkas den auf der Marschrutkaspur gerade haltenden Marschrutkas ausweichen müssen, schießen diese Marschrutkas ebenfalls sehr plötzlich auf die verbleibende linke Spur. Man muss also in permanenter Marschrutkaalamstufe verweilen. Selbst auf der Marschrutkaspur zu fahren, ist nur für wirklich Fortgeschrittene oder Abenteuermotorradfahrer geeignet. Wie ihr merkt, mag ich im übrigen das Wort Marschrutka :).
Hier hätte ich auch länger bleiben können, muss ich überrascht bei meiner Abfahrt feststellen und verdanke dies zu einem großen Teil meiner liebenswerten Gastfamilie, die meinem Aufenthalt die wichtige Wärme beigesteuert hat, die so entscheidend für den Gesamteindruck ist. Aber die Tenere wartet bereits ungeduldig und befüllt mit neuem Öl (10000 KM sind schon rum) und so mache ich mich auf den Weg Richtung Süden, vorbei an den zahllosen Klöstern, Mauern, Höhlen, Steinhaufen und was die hier uralte kulturhistorische Geschichte sonst noch alles zu bieten hat.
[caption id="attachment_1183" align="alignleft" width="320" caption="Ural, fährt ..."][/caption]
Ich treffe auf einen Motorradfahrer und seine Frau auf einer alten Ural mit Beiwagen, halte interessiert an und schaue ihnen bei der Arbeit zu. Nach kurzer Zeit kommt der Mann und schenkt mir eine Handvoll Nüße. Eine schöne und keine ungewönliche Geste und da ich dazugelernt habe und immer mehr Essen mit mir rumschleppe als nötig, gebe ich ihm ein Stück meines Süssbrotes aus einer Gegend um Jerewan. Ich mag diese kleinen teilenden Gesten, die so soviel zu einem positiven Miteinander beitragen. Obwohl man potentiell etwas bekommen kann, was ma nicht mag aber im Allgemeinen etwas gibt, was man mag, ist das Resultat meist ein Gutes. Die Geste schafft etwas, was mehr wert ist als das Produkt.
Nach der farbenfrohen Herbstaugenweide, in der ich das nördlichere Armenien vorgefunden habe, befinde ich mich nun im deutlich trockeneren Süden und in greifbarer Nähe zum Iran. Ich muss zugeben, ich bin einigermaßen aufgeregt! Einmal werde ich noch wach, dann ist es soweit und ich bin mir sicher, alles wird wieder ganz anders.
Vielen Dank fürs Mitlesen, bis bald und bleibt dran!
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